Mein Onkel ist ein interessanter Mensch. Und der Mann mit der dichtesten Brustbehaarung, den ich kenne. Als ich ein kleines Mädchen war und er uns mit meiner Tante im Urlaub besucht hat, kam er mir immer vor wie ein Bär – behaart und stark. Unerschütterlich. Er sah ein bisschen aus wie Adriano Celentano, obschon ich damals gar nicht wusste, wer Adriano Celentano überhaupt war. Ich erinnere mich außerdem, wie dieser starke Adriano Celentano aus dem Sauerland Angst hatte, nach der ersten Plattform auf dem Pariser Eiffelturm weiter mit mir nach oben zu fahren. Ganz nach oben. Höhenangst.
Der Adriano Celentano unserer Familie ist wohl so was wie ein „Selfmade Man“. Hat sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet. Er hat als Krankenpfleger begonnen. Eigentlich kein Job, bei dem man leicht zu Reichtum kommt. Was übrigens sehr schade und vor allem sehr falsch ist. Aber das ist eine andere Geschichte. Später eröffnete er einen privaten Pflegedienst, noch später eine Klinik. Heute betreibt er auch Alters-Residenzen mit medizinischer Versorgung. Es geht ihm und meiner Tante finanziell gut. Wie er sein Geld anlegt und wie viel das wirklich ist – keine Ahnung. Er hat keine Kinder, also gibt es auch niemanden, der mir vorrechnet, wie viel er dann mal eines Tages erben wird. Ein offensichtlich sehr beliebter Zeitvertreib meiner Generation
Family Business
Einige Sätze von ihm haben sich bei mir eingebrannt. Als ich etwa 10 Jahre alt war, war er etwa 40. Damals hatte er sein kleines Mini-Imperium noch lange nicht aufgebaut, und dennoch war er einer der großzügigsten Menschen, die ich kannte. Ist er noch heute. Eigentlich immer, wenn wir irgendwo einen Obdachlosen oder einen Bettler sahen, steckte er ihm ein paar Mark zu. Eine dieser Situationen ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Wir kamen gerade von einem opulenten Essen in einem tollen Restaurant. Es war Ostern, glaube ich, und wir hatten ihn und meine Tante im Sauerland besucht. Auf dem Weg zu unseren Autos saß eine Frau an der Straße, in einem Rollstuhl. Ein paar Plastiktüten von örtlichen Supermärkten um sie rum und ein Schild, auf dem sie berichtete, dass sie aufgrund einer Krankheit erst ein Bein und dann ihren Job, ihre Wohnung und ihren Mann verloren hatte.
Damals gab es sehr viel weniger Menschen im Stadtbild, die sich nicht mehr anders zu helfen wissen, als öffentlich auf der Straße um Hilfe und ein paar Cent zu bitten. Auch das ist eine Entwicklung, die ich in einem reichen Land wie Deutschland nicht wirklich nachvollziehen kann – aber auch das ist eine andere Geschichte.
100 Mark machen mich nicht arm, aber jemand anderen reich
Mein Onkel jedenfalls blieb einen Moment stehen, sprach ein paar Worte mit ihr, die ich nicht hören konnte, und gab ihr dann einen 100-Mark-Schein. 100 Mark waren als Zehnjährige für mich ein beinahe unfassbarer Geldbetrag. Ich erkannte den Schein sogar von weitem. Was man davon alles kaufen konnte. Ich rannte zu meinem Onkel und fragte ihn, noch bevor wir den Parkplatz erreicht hatten, warum er das getan hatte. So viel Geld. Eine fremde Frau.
Noch heute kann ich jedes Wort im Schlaf zitieren. Er antwortete: „100 Mark machen mich nicht arm – aber sie kann damit sehr viel glücklicher werden als ich.“ Worte, die mich ein bisschen geprägt haben. Als Zehnjährige und bis heute. Das Leben ist eine Ansammlung von Zufällen. Ich kann nichts dafür, ob ich reich, hübsch, arm, schlau, lustig, in Deutschland, Russland, Syrien oder Ghana geboren werde.
Das Glück des Zufalls
Ich hatte immer genug zu essen, lebte in einem Land in Frieden und konnte eine gute Ausbildung absolvieren. Aber nicht alle Menschen haben so viel Glück wie ich. Und die benötigen unsere Hilfe. Eigentlich, lange bevor sie uns auf der Straße begegnen. Aber spätestens dort kann jeder etwas tun. Wenn jeder nur mit dem Geld, das er irgendwann mal irgendwem geliehen und nie zurückbekommen hat, Gutes tun würde, wäre die Welt eine bessere.
Denn jeder hat sie irgendwo in seinem Umfeld. Diese notorischen Schnorrer. Die, die nie Geld dabeihaben, wenn es ans Bezahlen geht. Die, die mal eben 10 Euro brauchen für Kippen oder einen Zwanni für das Taxi. Denen das Konzept Bargeld offensichtlich fremd ist. Die, die wissen, dass es uns normalerweise zu blöd ist, unserem Geld hinterher zu laufen. Nach den 20 Euro vom vorletzten Wochenende fragen? Am Ende dastehen, als wäre man selber auf die 20 Euro angewiesen?
The Leihen King
Warum ist es uns so unangenehm, verliehenes Geld zurückzufordern? Der Satz „Klar kann ich dir 20 Euro leihen“ kommt uns so viel leichter über die Lippen, als der Satz „Du, ich bekomme noch 20 Euro von dir“. Ist das nicht albern? Warum sollte es verwerflich sein, geliehenes Geld zurückzufordern? Klar, man selber leiht sich nie Geld und wenn, gibt man es schnellstmöglich zurück. Das erwartet man auch von anderen. Man hilft kurz, unbürokratisch. Klar, die 20 Euro für das Taxi, warum auch um zwei Uhr nachts auf dem Kiez noch zum Automaten? Dass man im Taxi mit EC-Karte, Kreditkarte und im Zweifel sogar MyTaxi-App zahlen kann: Vergessen. Ist doch auch egal, beim nächsten Treffen bekommt man das Geld ja wieder.
Tja, News Flash: Oft bekommt man es nicht wieder. Nicht ohne aktive Erinnerung daran jedenfalls. Und da wird es dann oft awkward. Aber nicht für den Geld-Leiher, dem man netterweise noch unterstellt, es einfach vergessen zu haben, obwohl man weiß, dass es sich in 9 von 10 Fällen um die berühmte partielle „Geldleih-Amnesie“ handelt. Ein Phänomen: Geliehenes Geld löst Gedächtnisverluste aus. Diese Leute spekulieren darauf, das Geld nie zurückgeben zu müssen. Und ihre Chancen sind nicht schlecht. Oft vergessen wir es einfach. Und wenn wir uns erinnern, scheuen wir die unangenehme Situation, auf das eigene Geld zu beharren. Darum kommen die Leihen Kings damit so oft durch.
Bitch Better Have My Money
Genau da liegt mein Problem. Wenn ich Geld verschenken möchte, entscheide ich gerne selber, an wen. Eher geringe Chancen auf eine großherzige Spende haben alte Bekannte, die ihr Geld für Zigaretten und überteuerte Handys ausgeben und sich dann am Ende des Monats Kohle „für die Miete“ leihen wollen, die letztendlich für ein paar neue Nikes rausgehauen wird. Dafür gibt es Eltern oder die Erkenntnis, endlich mal so was Spießiges wie halbwegs vernünftigen Umgang mit Geld zu erlernen. Auch nicht sehr weit oben auf meiner Geld-zu-verschenken-Liste sind notorische Bargeld-Vergesser mit Treuhandfonds oder sechsstelligem Klamotten-Budget.
Denn manchmal geht es ja auch gar nicht nur um Kleinbeträge für ein Taxi. Ich habe schon mal einer Freundin einen mittleren vierstelligen Betrag geliehen, da sie sonst angeblich in die Privatinsolvenz hätte gehen müssen. Nur um zwei Wochen später zufällig über Facebook zu erfahren, dass sie mit ihrem Freund für drei Wochen in die USA gereist ist, „mal spontan einen Traum erfüllen und die Ostküste runterfahren“.
Inkasso-Institut Marie
Wessen Träume ich finanziere, entscheide ich. USA-Trips gehören mit Sicherheit nicht dazu. Ich bekomme mein Geld ja auch nicht geschenkt. Da spende ich mein Geld lieber. An Tierschutzprojekte oder Viva con Agua. Ich möchte kein Taxi- oder Lifestyle-Sponsor für Wohlstandskinder sein, deren Hobby das konzeptionell perfekt abgestimmte Geld-Vergessen-Spielchen ist. Keiner sollte das. Dafür muss man allerdings die völlig absurde, aber weit verbreitete Sperre ablegen, zur Not sein eigenes verliehenes Geld wieder einzufordern. Ich musste das auch lernen, und ich gestehe: Es gelingt mir noch nicht immer. Aber dann denke ich daran, dass man mit nur einem einzigen Euro beispielsweise zwei Straßenkinder in Indien mit Schiefertafeln und Kreide ausstatten kann oder verletzten Katzen im Tierheim eine Woche die Nahrung finanzieren.
Seither schreibt sich die „… sonst überweise das Geld doch gerne oder sende es per Paypal“-WhatsApp quasi von alleine. Mit eigentlich ganz gutem Erfolg. Probiert es mal aus!